Warum Gelassenheit in der Kinderwunschzeit so schwer ist
von Yvonne Keßel
Wenn sich ein Paar entschließt, ein Kind zu bekommen, ist diese Entscheidung von vielen Gefühlen begleitet: Aufregung, ein wenig Angst, aber vor allem auch Vorfreude. Verhütung ist kein Thema mehr und das, was wir jahrelang versucht haben, zu vermeiden, sollte doch jetzt ganz problemlos klappen. Schwanger werden – die einfachste Sache der Welt? Nicht ganz, denn bei vielen Paaren ist der Druck bereits zu Anfang hoch.
Aus medizinischer Sicht haben wir mehr Einflussmöglichkeiten auf eine Schwangerschaft als je zuvor
Aus medizinischer Sicht haben wir heute mehr Kontroll- und Einflussmöglichkeiten auf eine Schwangerschaft als je zuvor. Mit entsprechenden Tests können wir nicht nur unsere fruchtbaren Tage, sondern auch den Zeitpunkt des Eisprungs bestimmen. Wir können nicht nur feststellen, ob wir schwanger sind, sondern auch wie lange schon. Und all das können wir inzwischen ganz einfach zu Hause selbst tun. Wer würde diese Möglichkeiten nicht nutzen, erhöhen sie doch augenscheinlich die Wahrscheinlichkeit, schwanger zu werden? Doch was auf den ersten Blick positiv zu sein scheint, hat seine Tücken: denn es bedeutet vor allem den Abschied von Spontaneität, Freiheit und Gelassenheit. Sex steht fortan im Terminkalender. Nicht nur Tag und Uhrzeit sind nun fest bestimmt, sondern auch die Position. Und mit den Kontrollmöglichkeiten steigt die Angst: Zeigt ein Test den erwarteten Eisprung nicht an oder sind wir nach einigen Zyklen geplantem Sex immer noch nicht schwanger, fragen wir uns schnell, ob etwas mit uns nicht stimmt. Die Verunsicherung steigt und damit auch der Druck. „Weshalb will es einfach nicht klappen?“ oder „Was mache ich falsch?“ sind Fragen, die sich viele Frauen dann stellen.
Wir tun alles, um schwanger zu werden, egal ob sinnvoll oder nicht
Dass wir nur bedingt steuern können, ob und wann wir schwanger werden, wird häufig als sehr belastend empfunden, denn Abwarten und Nichtstun kann für uns Menschen sehr quälend sein. Buchautor Rolf Dobelli beschreibt dies in seinem Buch „Die Kunst des klaren Denkens“ sehr genau: „In unklaren Situationen verspüren wir den Impuls, etwas zu tun, irgendetwas – egal ob es hilft oder nicht. Danach fühlen wir uns besser, selbst wenn sich nichts zum Besseren gewendet hat.“ Und so unternehmen wir alle möglichen Dinge, um endlich schwanger zu werden: wir machen Entspannungsübungen, sprechen mit unserer Gebärmutter, nehmen homöopathische Mittel und gehen zur Akupunktur. Das Glas Rotwein am Abend wird durch ein stilles Wasser ersetzt, der Rohmilchkäse von der Speiseliste gestrichen und der Klettersport lieber eingestellt. Klappt es mit dem Wunschkind nicht sofort, ändern viele Frauen ihren Lebensstil radikal und verzichten auf etliche Dinge, die ihnen zuvor Freude bereitet haben. Der Kinderwunsch bestimmt Alltag, Ernährung, Freizeitgestaltung und Hobbies und drängt sich somit immer weiter in den Vordergrund. Wie sollen wir einer möglichen Schwangerschaft da noch gelassen entgegenblicken?
Ein Kind als eine Option der Lebensgestaltung
Da Sexualität und Fortpflanzung in unserer modernen Gesellschaft nicht mehr untrennbar miteinander verbunden sind, stellt ein Kind heutzutage eine Möglichkeit der Lebensgestaltung dar. Jedes Paar entwickelt ganz eigene subjektive Gründe für den Wunsch nach einem Kind, die sich zwischen Mann und Frau durchaus unterscheiden können (Stammer, Verres & Wischmann, 2004). Häufig sind viele unterschiedliche Themen und Dinge mit dem Kinderwunsch verwoben, nicht zuletzt auch die eigene Identität. Manchmal scheint ein Kind die Lösung für andere Lebensthemen zu sein: um endlich die Geborgenheit und das Familienleben zu erfahren, welches man in der eigenen Herkunftsfamilie schmerzlich vermisste, um den ungeliebten Job an den Nagel hängen zu können, um die Anerkennung der Schwiegermutter zu gewinnen oder um eine schwierige Partnerschaft zu retten. Nicht immer sind uns die Beweggründe vollkommen bewusst. Will es mit dem Kind aber einfach nicht klappen, kann es lohnend sein, sich mit diesen etwas intensiver auseinanderzusetzen. Denn je schwer wiegender das Problem, welches durch ein Kind vermeintliche Lösung erfahren soll, desto mehr leiden wir darunter, wenn sich der Kinderwunsch nicht erfüllt. Sich dann unabhängig vom Kinderwunsch mit den belastenden Lebensthemen auseinanderzusetzen und alternative Lösungswege zu finden, kann eine große Erleichterung sein. Auch wenn eine positive Perspektive ohne Kind für die meisten Paare zunächst unvorstellbar erscheint, ist es hilfreich, sich mit alternativen Lebensentwürfen zu beschäftigen. Was macht mich als Mensch aus und wie kann ich mein Leben aktiv und sinnbringend gestalten, sind dabei zentrale Fragen.
Gelassen in der Kinderwunschzeit? Das sind wohl nur die allerwenigsten. Doch wichtig ist, dass wir uns bei all dem Hoffen, Warten und Bangen nicht selbst ganz aus den Augen verlieren. Was unserer Seele gut tut, tut auch unserem Körper gut. Aus diesem Grund ist gerade die Kinderwunschzeit eine Zeit, in der man sich mit den eigenen Bedürfnissen und Wünschen umso intensiver beschäftigen sollte. Denn wenn es dann klappt mit dem Baby, treten diese ohnehin erst einmal in den Hintergrund und Verzicht, ob auf den Rotwein am Abend oder den erholsamen Schlaf in der Nacht, ist dann ohnehin an der Tagesordnung.
Literatur
Rolf Dobelli: Die Kunst des klaren Denkens: 52 Denkfehler, die Sie besser anderen überlassen. Carl Hanser Verlag, München, 2011.
Heike Stammer, Rolf Verres und Tewes Wischmann: Paarberatung und –therapie bei unerfülltem Kinderwunsch. Hogrefe, Göttingen, 2004.
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