Ich liebe dich, Bruder

Ich denke jeder Mensch liebt seine Geschwister. Aber ich denke auch, dass jede Schwester und jeder Bruder weiß, wie schwer es manchmal ist, seinen Geschwistern diese Liebe zu zeigen. Es gibt Differenzen, man lebt sich mit der Zeit auseinander, wird erwachsen und geht seinen eigenen Weg. Der Kontakt zu den Geschwistern reißt zwar deshalb nicht gänzlich ab, ist aber bei weitem nicht mehr so eng wie zu Kindertagen. Besonders wenn man bereits eine eigene Familie hat, vielleicht in einer anderen Stadt wohnt und sich nicht mehr so oft sieht, ist es schwer, einen guten und engen Kontakt zu den Geschwistern zu pflegen und ihnen die Liebe entgegenzubringen, die sie verdienen.

So ist es auch bei mir. Zwischen meinem kleinen Bruder und mir liegen 6 Jahre… Er ist mittlerweile 20 Jahre alt, ich bin 26 Jahre alt. Er lebt noch in unserem Elternhaus und ich bin verheiratet und lebe ca. 550 Kilometer entfernt. 6 Jahre sind zwar kein gravierender Altersunterschied, dennoch war es nicht immer leicht. Der kleine Bruder wurde verwöhnt und war eben „der Kleine“. Da gab es schon mal Eifersucht in der Kindheit und es entstanden Reibereien. Erst als wir beide erwachsen waren, wurde unser Verhältnis langsam enger und vertrauter. Keine Eifersucht mehr, keine Sticheleien. Wir lernten uns plötzlich richtig kennen. Halfen uns in gewissen Situationen, besuchten einander und redeten über Themen die uns beide interessieren.

Ich konnte eine große Schwester sein. Ich war da, wenn er mit unseren Eltern Streit hatte. Mein Haus war sein Rückzugsort, wenn Zuhause alles zu viel wurde. Natürlich war die große Schwester in den guten Zeiten nicht immer interessant und der Kontakt wurde dann gerne mal vernachlässigt. Aber hey, in dem Alter darf das wohl noch so sein.

Mit Meiner Mutter habe ich jeden Tag einen engen Kontakt und weiß so immer, was gerade Zuhause passiert. Mein Bruder geht, wie viele andere junge Männer in seinem Alter, oft weg und trifft sich mit Freunden oder besucht hier und dort mal eine Party. Meine Mutter ist deshalb ständig in Sorge und steht natürlich auch immer mit mir in Kontakt, wenn mein Bruder am Abend raus geht. Natürlich ist er 20 Jahre alt und es ist normal, dass er an den Wochenenden Spaß haben will, dennoch versteht man auch die Sorge einer Mutter, wenn ihr Kind nicht bei ihr ist… So redete ich an vielen Wochenenden lange mit meiner Mutter und wir hofften, dass unser „Kleiner“ wieder gut nach Hause kommt und er uns seine Kumpels keine Dummheiten machen.

Auch an diesem einen Abend vor ein paar Wochen…

Meine Mutter erzählte mir, dass mein Bruder wieder raus geht und sich mit seinen Kumpels einen gemütlichen Abend am See machen möchte. Da der See nur ein paar Kilometer von meinen Eltern entfernt ist, beruhigte ich meine Mutter mit den Worten: „Wenigstens in der Nähe, dann kann schon mal nicht viel passieren.“ Meine Mutter stimmte zu und beide gingen wir mehr oder weniger beruhigt ins Bett, als mein Bruder das Haus verließ. Sie in unserem Elternhaus, ich 550 km entfernt.

Die Nacht war nicht besonders gut. Ich konnte nur schlecht einschlafen und machte mir viele Gedanken um meine Schwangerschaft. Ich war mittlerweile im 6. Monat schwanger und merkte zunehmend was es heißt Muttergefühle und Sorgen zu entwickeln… Um ca. 1:00 Uhr schlummerte ich langsam ein… Eine halbe Stunde später, ich noch im Halbschlaf, saß plötzlich mein Mann auf der Bettkante, sichtlich aufgeregt. Sofort saß ich senkrecht im Bett, denn ich wusste, hier stimmt etwas nicht. Ich fragte ihn aufgeregt was los sei und sah in seinem Gesicht, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Denn so habe ich ihn zuvor noch nie gesehen. Er atmete schnell, seine Augen waren weit geöffnet und ich spürte förmlich das Adrenalin welches durch seinen Körper gepumpt wurde…

„Was ist los?“, fragte ich. Ich dachte, es wäre etwas mit seinen Eltern oder er hätte gesundheitliche Probleme, so dass wir vielleicht in die Notaufnahme müssten. Wie gesagt, zu dem Zeitpunkt fingen die Muttergefühle an, die ich auch auf meinen Mann projizierte. Er schaute mich bedrückt an und sagte:“Ich muss dir was sagen, aber du musst mir versprechen, dass du dich nicht aufregst.“ Ich erwiderte forsch: „Jetzt sag was los ist, was hast du denn?“… Immer noch in der Annahme, mit ihm würde etwas nicht stimmen. Mein Herz pochte. Nun merkte ich auch bei mir das Adrenalin aufsteigen. Alles schien unwirklich zu sein und ich wollte einfach nur wissen, was los ist.

„Schatz du musst mir versprechen, dass du ruhig bleibst.“ Seine Worte gingen durch mich durch und ich wurde langsam hektisch. „Sag mir jetzt was los ist.“ Er blickte mich traurig an und sagte: „Schatz, dein Bruder hatte einen Unfall.“ In dem Moment machte sich Erleichterung breit. Ich wusste wie Jungs in dem Alter sind. Ich wusste, dass sie zum See wollten, der nicht weit von unserem Elternhaus entfernt ist. Ich dachte sofort daran, wie ein paar angetrunkene Jungs voller Übermut mit den Rädern in den See fahren… Oder vielleicht gegen eine Laterne im schlimmsten Fall… Was Schlimmes konnte ich mir nicht vorstellen, denn es war ja nie etwas Schlimmes passiert wenn er raus ging.

Ich schaute meinen Mann an und fragte:“Was ist denn passiert?“ Immer noch mit dem Hintergedanken, dass sicherlich nichts Schlimmes sei und er sich mit seinen Freunden vielleicht einen Streich erlaubt hat der schief gegangen ist. Hörte ich doch in der Vergangenheit schon von meiner Mutter wie mein Bruder und seine Freunde drauf und dran waren einen Hahn zu kaufen und ihn als Maskottchen zu halten. Mit dem sie dann, auch in der Nacht, spazieren gehen wollten… Doch diesmal war etwas anders. Mein Mann blickte immer noch sehr finster und wirkte immer bedrückter…

„Dein Bruder hatte einen sehr schweren Autounfall. Er liegt auf der Intensivstation mit inneren Blutungen. Sein Freund ist gestorben“.

Diese Worte trafen mich wie ein Schlag. Ein unerwarteter Schlag. Plötzlich schien die Welt still zu stehen. Mein Kopf war leer. Ich konnte nicht mehr denken. Ich konnte nicht mehr fühlen. Mein kleiner Bruder, mit dem ich vor ein paar Stunden noch per Whatsapp lustige Bilder austauschte, sollte jetzt in diesem Moment um sein Leben bangen? Ich konnte es nicht glauben. Ich fragte meinen Mann was genau passiert sei und er erzählte mir dass er noch nichts genaues wüsste. Meine Mutter hatte ihn angerufen und nur geweint. Er konnte sie kaum verstehen. Er hatte versucht sie zu beruhigen und sie ans Atmen zu erinnern. Sie versuchte ihm dann in kurzen Sätzen mitzuteilen, was passiert ist.

Mein Bruder war wohl mit Freunden unterwegs, als sie von der Straße abkamen, gegen einen Baum prallten und sich das Auto überschlug. Dies erzählte mir mein Mann, als ich mich vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer geschleppt hatte. Mein Bruder hätte jetzt innere Blutungen und wäre auf der Intensivstation, sei aber soweit stabil.

Soweit stabil? Innere Blutungen? Das passte für mich nicht zusammen. Alles in meinem Kopf war durcheinander.

Ich nahm das Telefon und rief meine Mutter an. Die immer noch weinte und unter Schock stand. Sie betete ununterbrochen und konnte mir keine Informationen geben, weshalb ich um meinen Vater bat. Der mir dann genau erzählte was passiert ist und wie es um meinen Bruder steht.

Wir fuhren noch in der selben Nacht los und machten uns auf den Weg zu meiner Familie. Die Fahrt ging Gott sei Dank sehr schnell. Die 5 Stunden verflogen nur so und man merkte gar nicht, dass man unterwegs war. Die Gedanken waren bei der Familie und bei diesem Unfall. Wie ist das nur passiert? Was ist genau passiert? Wie geht es ihm? Gedanken die kreisten.

Angekommen legten wir uns kurz hin, denn die Nacht ohne Schlaf zerrte an unseren Körpern. Wir wollten uns nach einer kurzen Pause direkt zur Intensivstation aufmachen um meinen Bruder zu sehen…

Nach wenigen Stunden ging ich vom Gästezimmer meiner Eltern runter in die Küche, wo meine Mutter gerade angekommen war. Sie kam von der Intensivstation und man sah in ihrem Gesicht die Spuren der letzten Nacht. Sie sah mich und stürmte in meine Arme. Ich drückte sie so fest an mich wie ich konnte und sie weinte… Sie weinte so viel, wie ich es bei ihr noch nie gesehen hatte. Dann setzte sie sich und versuchte mit mir zu sprechen. Blickte aber nur leer an die Wand und begann Sätze, die sie nicht beendete. Ich versuchte sie zu beruhigen. Mein Vater berichtete kurz über die letzte Nacht und wir machten uns auf zum Krankenhaus.

Angekommen. Mein Herz klopfte. Mein Körper war schwer. Nicht nur durch die Schwangerschaft, sondern durch den ganzen Schock, der sich in meinen Gliedern spürbar machte. Ein Stockwerk bis zur Intensivstation. Vor der Intensivstation hieß es Hände desinfizieren und warten, bis man herein gerufen wird… Warten… Minuten vergingen wie Stunden.

Dann durften wir rein. Ich wusste nicht was mich erwartet. Wollte nur endlich meinen Bruder sehen. Auf dem Weg zu seinem Zimmer fühlten sich meine Beine an wie Pudding. Überall laute Geräusche. Schwestern vermummt mit grünen Kitteln und Masken. Schwerverletzte Menschen die an Geräten angeschlossen waren. Viele Eindrücke, die beängstigten, aber mich nicht weiter interessierten, denn ich wollte nur zu meinem Bruder.

Da lag er dann. Mein kleiner Bruder. Er war ebenfalls eine der schwerverletzten Personen die mich gerade noch erschraken. Angeschlossen an so vielen Maschinen. Katheter, Beutel mit Blut… Sein zartes Gesicht blutig und verschrammt, sein Körper nackt und nur in ein Krankenhaushemd eingehüllt, so dass man viele seiner Wunden sehen konnte. Seine Füße fast nicht mehr zu erkennen, so angeschwollen und blutverschmiert. Aber er war bei Bewusstsein. Er konnte uns sehen, konnte uns hören und konnte etwas mit uns sprechen. Ich konnte in seine Augen blicken. Seine Augen die so erwachsen sind, aber für mich immer die Kinderaugen bleiben die mich damals frech anschauten wenn er meine Süßigkeiten klaute. Oder ich seine…

Ich konnte seine Hand halten. Konnte bei ihm sein. Das hat mir so viel bedeutet. Ich konnte ihm sagen, dass ich ihn liebe. Zum ersten Mal. Und das tat ich auch. Ich sagte ihm: „Ich liebe dich, kleiner Bruder“. Denn das war mir das Wichtigste. Das war es, was ich ihm seit dem Anruf sagen wollte. „Ich liebe dich“.

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Manchmal merken wir erst wie wichtig Menschen sind, wenn wir sie fast verlieren. Manchmal merken wir erst wie kostbar das Leben ist, wenn es an uns vorbei zieht. Wir sollten Gott für dieses Leben danken und Ihm für die Menschen danken, die bei uns sind.

Und wir sollten unseren Liebsten sagen wie sehr wir sie schätzen. Wie sehr wir sie lieben. Jeden Tag. Denn vielleicht ist es irgendwann zu spät.

Eine Woche lag mein Bruder in einem kritischen Zustand auf der Intensivstation. Eine Woche, in der alles egal war, alle vergangenen Differenzen vergessen. Eine Woche, in der nur die Liebe zählte und der Zusammenhalt und der Glaube.

Mittlerweile ist er wieder Zuhause und auf dem Weg der Besserung. Auch ich bin wieder Zuhause und gehe meinem Alltag nach. Aber anders als sonst. Bewusster. Und ich versuche meinem Bruder jetzt so oft es geht zu sagen, wie sehr ich ihn lieb habe.

 

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